Irgendeine Großstadt. Irgendein Tonstudio. Naja, nicht irgendeines. Ein erfolgreiches, seit rund 20 Jahren am Markt. Hier wurden schon Blockbuster vertont, Werbespots gesprochen, Spielfilme synchronisiert oder Hörbücher aufgenommen.
Wir sind bei einer professionellen Sprachaufnahme. Es geht um ein Video über ein neues Elektroauto. Kein Werbefilm, der im Fernsehen oder Kino läuft, sondern ein Internet-Video. Es soll Informationen transportieren und gleichzeitig begeistern. Der rund zwei Minuten lange Film liegt als Rohschnitt vor, es gibt eine Hintergrundmusik und einen abgestimmten Sprechertext.
Vor Ort im Studio ist bereits ein Vertreter der Agentur, die das Video für den Kunden (das ist der Hersteller des Elektromobils) macht. Dieser Agenturmensch ist dabei, damit die Sprachaufnahme zum Film und zur Marke des Automobilherstellers passt. (Bei einem hohen Budget wäre auch ein Mitarbeiter des Automobilherstellers vor Ort).
Der Agenturmensch ist seit ein paar Minuten da. Er hat den Tonstudio-Hund gekrault und einen Latte Macchiato getrunken. Jetzt macht er Smalltalk mit dem Tontechniker, der für die Aufnahme zuständig ist. Beide schauen noch einmal auf das kurze Manuskript, das mehrfach ausgedruckt vor ihnen auf dem Mischpult liegt. Dann heißt es plötzlich „sie kommt“. Und, nach dieser freundlichen Information durch die hübsche Rezeptionistin, betritt die Sprecherin das Tonstudio. Ihre Stimme kennt man aus Dokus für ZDF und ARD, aus Video Games, als Synchronstimme zweier Hollywood-Stars oder aus Hörspielen. Sie sieht natürlich anders aus, als sie klingt. Aber das ist das bekannte „Dilemma“ schöner oder markanter Stimmen. Das verheißungsvolle Bild, das sie in unsere Phantasie zaubern, entspricht nicht immer der Realität. Naja. Diese Sprecherin ist jedenfalls eine beeindruckende Erscheinung. Anfang 50, leger gekleidet, frische, klare Augen. Sie nimmt mit ihrer Präsenz sofort den Raum für sich ein. Natürlich kennt sie im Studio jeder und alle sind per Du. Küsschen links, Küsschen rechts mit dem Tontechniker, kurzer Smalltalk, ein reserviertes Händeschütteln mit dem Agenturmenschen.
Weil sie „noch andere Termine hat“, greift sich die Sprecherin direkt ein Manuskript. Sie überfliegt den Text, den sie zum ersten Mal sieht. Ein kurzes Lächeln. „E-Autos finde ich ja klasse. Aber die sind schon noch ganz schön teuer.“ „Ja“, wirft der Techniker ein, „aber tolle Beschleunigung. Das sieht man auch gleich in dem Video.“ Er deutet auf einen Monitor am Mischpult und drückt einen Knopf. Der Film läuft ab. Zu dritt schauen sie auf den Monitor, die Sprecherin blickt immer wieder kurz auf das Manuskript und vergleicht den Ablauf mit dem Text. „Die Abkürzung für den Elektroantrieb würde ich jedes Mal aussprechen, also nicht abkürzen“, sagt sie. „Das ist einfacher zu deklinieren und die Leute verstehen, was gemeint ist“, ergänzt sie. Der Agenturmensch nickt, der Tontechniker auch. Der Profi spricht. Also bitte keine Diskussionen.
„Ich könnte gleich loslegen“ sagt die Sprecherin und will zur Tür neben der Glaswand gehen, die in den schallgedämpften Sprecherbereich führt. „Ein kleiner Hinweis noch zur gewünschten Tonalität“, wirft der Agenturmensch jetzt ein. Sprecherin und Tontechniker sehen ihn an und er weiß: ihm bleiben nur wenige Sekunden. Der Tontechniker und die Sprecherin sind ein eingespieltes Paar. Sie werden die Aufnahme jetzt schnell durchziehen wollen. Schließlich wird der Auftrag pauschal bezahlt. Je kürzer die Aufnahme dauert, umso besser. Der Agenturmensch muss aber vorher seine Punkte einbriefen, damit das Ergebnis so wird, wie es sein Kunde haben will. Tontechniker und Sprecherin hören ihm kurz zu, dann nimmt die Sprecherin ihren Platz ein.
„Ich lass den Film noch mal für dich laufen“, sagt der Tontechniker in sein Mikrophon. Die Sprecherin hört ihn über Lautsprecher hinter der Glaswand und nickt. „Ohne Time-Code?“ fragt sie, als sie sich den Film auf ihrem Monitor noch einmal ansieht. Ihr Ton, der aus den Lautsprechern über dem Mischpult kommt, klingt leicht missbilligend. „Ich lass dir die Uhr mitlaufen, das Skript ist aber nicht getimet.“ sagt der Tontechniker. Getimet bedeutet, dass auf dem Manuskript eigentlich Zeitangaben stehen sollten, damit die Sprecherin ihren Einsatz für die einzelnen Filmszenen sofort erkennt. Sie schaut noch mal auf den Text. „Geht auch so, das sind ja klar gegliederte Text-Blöcke, zu den einzelnen Film-Szenen“, meint sie jetzt. „Ich wäre soweit.“ „Ok“, der Tontechniker hat während der kurzen Unterhaltung schon die Lautstärke, sowie Höhen und Tiefen ausgepegelt. Er macht ein paar Handgriffe am Mischpult. „Du kannst“, sagt er und schon startet der Film. Die Sprecherin setzt auf den Punkt genau ein und spricht den Text einmal komplett durch, direkt auf das Video. Nur beim letzten Absatz verspricht sie sich einmal. Deswegen wiederholt sie diesen sofort. Der Agenturmensch macht sich dabei Notizen.
„Der war schon ganz gut“, grinst der Tontechniker und meint den ganzen Text der Sprecherin. Er fummelt an den Knöpfen seines Mischpults herum und schneidet den falsch gesprochenen Satz am Ende heraus. Die aufgenommene Alternative schiebt er auf der Tonspur nach vorne zum Rest des Textes. „Mal anhören“, sagt er und lässt die Sprachaufnahme parallel zum Film laufen. Zusammen mit der leisen Hintergrundmusik bekommt man so schon einen guten Eindruck vom Endergebnis.
Alle drei schauen auf den Film, hören konzentriert zu. Der Agenturmensch macht sich wieder Notizen. „Hm, da in der zweiten Sequenz war ich zu schnell und am Schluss muss ich mit der Stimme rauf, nicht runter“, kritisiert sich die Sprecherin sofort selbst. Sie darf das. Natürlich. „Hätte ich jetzt auch gesagt“, meint der Tontechniker. „Gut, lass mich gleich noch mal, da muss auch noch ein bisschen mehr Glanz rein, das mach ich gleich mit“, sagt die Sprecherin, und schon ist wieder alles zur Aufnahmen bereit. Noch einmal spricht sie den kompletten Text. Diesmal ohne sich zu versprechen. Jede Betonung sitzt. Jede Silbe ist perfekt akzentuiert.
„Den nehmen wir“, sagt der Ton-Techniker sofort und hebt den Daumen in Richtung der Sprecherin. Ganz kurz schaut er zum Agenturmenschen. Wenn er nicht zufrieden ist oder weitere Aufnahmen will, muss er es jetzt sagen. Doch die Sprecherin hat durch ihre jahrelange Erfahrung alle Punkte korrigiert, die er sich notiert hatte. „Super“, sagt der Agenturmensch deshalb und hebt auch den Daumen. Schon hat die Sprecherin den Kopfhörer abgenommen und steht am Mischpult. „Musste ich das Textchen doch zwei Mal sprechen, ist mir lange nicht passiert“, lacht sie. Und 30 Sekunden später, nach Küsschen links und Küsschen rechts, ist sie schon wieder verschwunden. Der Tontechniker macht eine saubere Mischung und schickt dem Agenturmensch ein MP3 zur Abnahme per E-Mail.
Das Ganze hat keine 40 Minuten gedauert …